Einleitung
Nach der anhaltenden Fluchtwelle seit dem Frühjahr 1989, dem Rücktritt Erich Honeckers und des Zentralkomitees der SED im Herbst 1989 steckte die DDR in einer tiefen Krise. Demonstrationen, zuerst in Leipzig, dann im ganzen Land propagierten “Wir sind das Volk”. Als am 9. November 1989 Günter Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz verkündet, dass allen DDR-Bürgern die unbeschränkte Ausreise ins Ausland gewährt wird, steigt die Fluchtwelle noch mal an. Am 13. November 1989 wurde dann auf der Montagsdemonstration in Leipzig zum ersten Mal der Ruf nach “Wir sind ein Volk” und “Deutschland, einig Vaterland” laut. Im Laufe dieser Entwicklung wenden sich im November 1989 31 Intellektuelle mit einem Aufruf “Für unser Land” an die Bürgerinnen und Bürger der DDR. Dieser Aufruf zum Erhalt einer sozialistischen DDR entstand aus einer Idee des Pfarrers der niederländischen Gemeinde der DDR, Dick Boer. Am 28. November 1989 legte Bundeskanzler Helmut Kohl dem Deutschen Bundestag ein 10-Punkte-Programm zu Neuregelungen für eine Vereinigung Deutschlands vor. Am selben Tag stellt Stefan Heym auf einer internationalen Pressekonferenz den Appell “für unser Land” den Journalisten vor.

Für unser Land

Unser Land steckt in einer tiefen Krise. Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben. Die Führung einer Partei hatte sich die Herrschaft über das Volk und seine Vertretungen angemaßt, vom Stalinismus geprägte Strukturen hatten alle Lebensbereiche durchdrungen. Gewaltfrei, durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozeß der revolutionären Erneuerung erzwungen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluß zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.

Entweder
können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.

Oder
Wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.

Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.

Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen.

Berlin, den 26. November 1989

Götz Berger, Rechtsanwalt; Wolfgang Berghofer, Kommunalpolitiker; Frank Beyer, Regisseur; Volker Braun, Schriftsteller; Reinhard Brühl, Militärhistoriker; Tamara Danz, Rocksängerin; Christoph Demke, Bischof; Siegrid England, Pädagogin; Bernd Gehrke, Ökonom; Sighard Gille, Maler; Ingeborg Graße, Krankenschwester; Stefan Heym, Schriftsteller; Gerda Jun, Ärztin/Psychotherapeutin; Dieter Klein, Politökonom; Günter Krusche, Generalsuperintendent; Brigitte Lebentrau, Biologin; Bernd P. Löwe, Friedensforscher; Thomas Montag, Mediziner; Andreas Pella, Bauingenieur; Sebastian Pflugbeil, Physiker; Ulrike Poppe, Hausfrau; Martin Schmidt, Ökonom; Friedrich Schorlemmer, Pfarrer; Andrée Türpe, Philosoph; Jutta Wachowiak, Schauspielerin; Heinz Warzecha, Generaldirektor; Konrad Weiß, Filmemacher; Angela Wintgen, Zahnärztin; Christa Wolf, Schriftstellerin

Im April 2003 übergab der Verein für angewandte Konfliktforschung (VAK) e.V. der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) die Unterlagen, die im Zuge der Aufrufaktion "Für unser Land" entstanden waren, sowie seine eigenen Forschungsmaterialien. Zu den Unterlagen gehörten auch eine Reihe von Tonbandaufnahmen, die Interviews mit den Erstunterzeichnern des Aufrufs und anderen prominenten Persönlichkeiten der DDR.
Der 1995 gegründete VAK e.V. ist aus dem Unabhängigen Institut für Friedens- und Konfliktforschung (UIFK) e.V. hervorgegangen, welches die Unterlagen 1992 von den Erstunterzeichnern des Aufrufs, vertreten durch Herrn Andrée Türpe, als dauerhafte Leihgabe übergeben bekam.
2012 erfolgte die Verzeichnung der 30 Tondokumente auf Kassetten mit MidosaXML. Sie entspricht der Beschriftung der Tondokumente bzw. den Titeln aus der Übergabeliste vom VAK e.V. . Die Tondokumente beinhalten die Pressekonferenz vom 28. November 1989 auf der Stefan Heym den Appell “für unser Land” den Journalisten vorstellt, Interviews mit den Unterzeichnern des Aufrufs und anderen Persönlichkeiten der Wendezeit (Dr. Götz Berger, Prof. Reinhard Brühl, Tamara Danz, Dr. Peter-Michael Diestel, Rainer Eppelmann, Prof. Heinrich Fink, Ingeborg Graße, Dr. Gregor Gysi, Walter Janka, Dr. Gerda Jun, Egon Krenz, Dr. Günther Krusche, Bischof Dr. Werner Leich, Dr. Bernd Peter Löwe, Lothar de Maizière, Dr. Günther Maleuda, Dr. Hans Modrow, Ulrike Poppe, Steffen Reiche, Friedrich Schorlemmer, Dr. Andrée Türpe, Jutta Wachowiak, Dr. Heinz Warzecha, Konrad Weiß und Christa Wolf von 1993, wenige davon sind nicht autorisiert). Außerdem ist der Mitschnitt eines Workshops zum Aufruf von 1993 enthalten. Die Übereinstimmung mit den Inhalten der Tondokumente wurde stichprobenartig überprüft.
Kassationen fanden nicht statt.
Bei der Veröffentlichung ist wie folgt zu zitieren: Bundesarchiv TonY 16/123, Kurzform: BArch TonY 16/123 (Beispiel für die Zitierung eines Tondokuments mit der Nr. 123).